Textbeitrag Kunstkreis Tuttlingen e.V.

Betrachtung der Werke von Rémy Trevisan
zur Ausstellung des Kunstkreis Tuttlingen e.V.
18. Juni bis 18. Juli 2004

Wie nähern wir uns dem Werk Rémy Trevisans am besten?
Etwa mit der Brille des Kunsthistorikers?
In diesem Fall würde man seine Position wohl verorten in der Tradition des so genannten Tachismus und informell der fünfziger Jahre und zugleich feststellen, dass Trevisans Arbeitsweise mit der des abstrakten Expressionismus etwa eines Jackson Pollock nur wenig gemein hat: Kein spontaner Selbstausdruck, sondern ein kalkuliertes, sorgsam austariertes Zusammenspiel von Farb- und Formbewegung.

Man würde vielleicht auch tatsächliche Vorbilder ausmachen, wie den in Basel verstorbenen Amerikaner Marc Tobey, dem es wie Trevisan um ein Projekt der Vergeistigung ging und mit dem er die Technik des All-Over teilt. Womöglich wäre man sogar, bei entsprechend bösem Willen, bereit, Trevisan einen Unzeitgemäßen zu nennen, im Vergleich zu den Versuchen heutiger Künstler, durch eine zitatensatte Liaison mit Fotographie, Film und Computer und insbesondere mit der alles beherrschenden Konzept-Art die vermeintlich zum Tode verurteilte Tafelmalerei zu retten.
All dies bewegt Trevisan herzlich wenig.

Mit der kunsthistorischen Brille kommen wir seinen Bildern nicht wirklich näher, jedenfalls vorerst nicht. Versuchen wir es also mit einer anderen Perspektive, etwa mit einer recht abenteuerlichen Geschichte. Sie führt uns zum indischen Ozean. Da begegnet uns auf einem dubiosen Frachtschiff unterwegs von Mombasa nach Singapur ein junger Mann, der die Ferne sucht und darin sich selbst. Die Reise ist eine Tortur. Man lässt ihn hungern, gibt ihm täglich nur eine Scheibe Brot, und wenn es Fleisch gibt, ist es vom Hund. Schließlich kommen Piraten an Bord, übernehmen mit Billigung des korrupten Kapitäns das Schiff. Trotz diesem Tumult, irgendwo zwischen Himmel und Meer, Asien und Afrika, erfährt der 21-jährige Trevisan so etwas wie eine Vision: "Ich muss Maler werden". Das Rot des Sonnenuntergangs war an keinem Ort am Horizont lokalisierbar, erinnert sich Rémy Trevisan: "Es war um mich herum". Dann das Erlebnis Indien: Die Überwältigung durch die Macht der ungewohnten Rituale und das intuitive Erkennen hinduistischer Weisheiten, wie etwa dieser, dass Brahman zugleich Athman sei, was in der Übersetzung für westliche Ohren etwa klingt wie: "Gott und Seele sind eins".

Rémy Trevisan taucht tief in die Geheimnisse der fernöstlichen Glaubenswelt ein und als er nach einem Jahr heimkehrt, ist er nach eigenem Empfinden ein anderer geworden. Ein anderer als der aus dem Land seiner Geburt geflohene, zur Musik neigende Sohn französisch-italienischer Eltern aus Chaumont im Departement Champagne-Ardenne, der nach einem schweren Fahrradunfall und vielen Tagen im Koma für lange Zeit orientierungslos war. Jetzt sieht er seinen Weg - so klar wie nie. Der einstige Postbeamte beginnt ein Studium an der Stuttgarter Kunstakademie, übt sich in Akt und Portrait. Wichtig wird ihm die Begegnung mit dem Künstler Rudolf Schoofs, der sein zeichnerisches Talent fördert. Doch muss er sich wieder freikämpfen, zurückkehren zu seinen kreativen Wurzeln: Wie weiland für Paul Klee, ist auch für Rémy Trevisan die Natur conditio sine qua non - notwendige Bedingung - seines Schaffens. Im Kabinett einen Stock unter uns können Sie unschwer nachvollziehen, wie sich der passionierte Zeichner vom realen Naturvorbild löst und sich zugleich peu à peu der Farbe entgegen tastet. Der Schemen eines Falters etwa ist einem der kleinen frühen Bilder eingeschrieben, doch die geschlossene Naturform beginnt sich bereits aufzulösen. Aus der gestisch bewegten Fläche wird Bewegung, rhythmische Energie, die sich in den Liniendickichten ausdrückt. Das Dickicht ist für Trevisan nicht etwa eine Barriere, nicht Abbild der sündhaften, standhaft zu durchdringenden Welt, wie sie in der abendländischen Tradition erscheint, das Labyrinth nicht ein tödlicher Irrgarten mit einem schrecklichen Minotaurus, sondern der Königsweg zum Selbst.
Erlauben Sie mir an dieser Stelle einen kleinen Exkurs zu einem Gedicht von Günter Eich, das uns gleichermaßen ins Dickicht führt.

Himbeerranken
Der Wald hinter den Gedanken,
die Regentropfen an ihnen
und der Herbst, der sie vergilben lässt.
Ach, Himbeerranken aussprechen,
dir Beeren ins Ohr flüstern,
die roten, die ins Moos fielen.
Ein Ohr versteht sie nicht,
mein Mund spricht sie nicht aus,
Worte halten ihren Verfall nicht auf
Hand in Hand zwischen undenkbaren Gedanken.
Im Dickicht verliert sich die Spur.
Der Mond schlägt sein Auge auf,
gelb und für immer.


Ein Liebesgedicht voller Hoffnung und Vergeblichkeit. In der Ambivalenz von Zeitlichkeit und Ewigkeitsahnung, Bewegung und vermeintlichem Zeitstillstand liegt aber eine Verbindung zu den Dickichten Trevisans, die jedoch - ich sage es - keineswegs statisches Gegenüber sind, sondern Ausdruck eines universellen Élan vital. Doch auch in der gegenstandsfreien Malerei bleibt ihm Natur Vorbild. So erinnern die Abstrakten Muster auch an Auffindbares, an Rinden-, Blatt- und Steinmaserungen. Eine Zeitlang malt er - pastos und haptisch - vertikale Strukturen, die an Pflanzenstengel erinnern: Chiffren des Wachstums. Ein von Raupen durchlöchertes Ulmenblatt gibt schließlich neue Impulse: Der Wechsel von Positiv- und Negativform, Hinter- und Vordergrund, Substanz und Leerraum bleibt eine Konstante in Trevisans Werk. Zwei superbe Zeichnungen im Untergeschoss zeigen das Blatt noch in seiner ursprünglichen - fast möchte man sagen: "akademischen" - Gestalt. Doch gibt es die überhaupt? Ist nicht alles nur Metamorphose? Was ein Blatt zum Blatt macht, ist doch vor allem sprachliche Konvention. Es ist die Sprache, die durch Benennung fixiert, die den dauernden Fluss der Erscheinungen unterbricht, mitunter sogar vergessen lässt, die Bilder formt.

Nicht zufällig wird für Trevisan die Begegnung mit den naturnahen ersten Wurzeln der Kunst zum Initial. Die Wandzeichnungen in den Höhlen von Lascaux - sind sie nicht Ausdruck einer nonverbalen, gar vorsprachlichen Kommunikation? Noch Zeichen einer Einheit von Mensch und Natur oder nicht gerade Ausdruck eines prinzipiell und endgültigen Getrenntseins? Diesen mentalen Bruch - und darin darf er sich durchaus als Romantiker fühlen - möchte Trevisan in seinen Bildern vergessen machen. Einige seiner frühen, teils in formatierten Sand geritzte Zeichnungen erinnern uns an archaische Kunst. Denn wie die Väter der klassischen Moderne, ist auch Rémy Trevisan stets unterwegs zu den drei Wurzeln künstlerischer Kreativität: Natur, Kind und Archaik. Eine Reihe von runden Holzscheiben - vermeintlich naturbelassenen Baumstämmen - hat er mit ursprünglichen Symbolen und Zeichen überzogen, die aus einem Zwischenreich zwischen Natur und Kultur stammen: die Doppelspirale etwa - konzentrische Kreise auf einer Wasserfläche, zugleich das kulturübergreifende Ursymbol des Lebens, der regenerativen Folge von Leben und Tod: ewig wechselnd, wie Goethe sagt. Um diesen Fluss des Lebens in wechselnder Erscheinung geht es Trevisan. Nicht das Ich, nicht die Gesellschaft, er ist das Thema seiner Kunst. Zwei Grundstrukturen lassen sich in seinen nun immer großformatigeren Arbeiten ausmachen: Die so genannten Netzbilder zeigen dichte Fadenstrukturen, andere ein eher fleckiges, blasiges Muster. Und es gibt Zwitter- und Mischformen. Immer geht es ihm um dasselbe Anliegen: dem Auge neue Räume zu öffnen.

Oft legt er bis zu sechs Farbschichten übereinander, und mehr als einmal fragen wir uns: "Was ist Vorder-, was Hintergrund?" Rémy Trevisans Bilder brauchen den zweiten und den dritten Blick. Betrachten Sie sie aus verschiedenen Distanzen, wird Ihnen auffallen, dass vieles nicht so ist, wie es zunächst erscheint: Vermeintliche Farbmaterie erweist sich als Leerstelle und Durchbruch, leuchtende Flächen, die sich in den Vordergrund drängen, sind nur Durchblicke auf die allererste Farbschicht. Vielleicht gelingt es Ihnen sogar, die zwei Buddhas auszumachen, die Trevisan in einem roten Bild im Obergeschoss versteckt hat. Man muss sich erst tiefer in sie einlassen, ehe die Bilder zu pulsieren beginnen. Ich bitte Sie, nehmen Sie sich diese Zeit.

Ein Bild im Obergeschoss, vielleicht nicht sein Bestes, aber von einigem Raffinement, steht sozusagen programmatisch für Trevisans Malimpuls. Es heißt "Eins". Zu sehen ist der Schemen einer womöglich im Lotus sitzenden Figur. Doch was Kontur zu sein scheint, öffnet sich in einen dahinterliegenden weiten Farbraum, ja die Figur selbst ist die Öffnung, durch die der Blick ins Weite geht, eine Art aufbrechendes Schlüsselloch in eine Sphäre jenseits der vordergründigen Erscheinungen: Brahman ist Atman. Was Trevisan anstrebt, ist eine Ahnung von Einheit - von Bewegung und Nichtbewegung, Immanenz und Transzendenz. Seine Malerei will im besten Sinne zeit- und auch stillos sein. Das Künstler-Individuum steht darin nicht im Vordergrund, es versteht sich allenfalls als Medium. Setzen wir am Ende noch einmal die kunsthistorische Brille auf, dann erkennen wir, dass Rémy Trevisan durchaus in einer langen Tradition steht, die den Titel einer Programmschrift von Wassily Kandinsky aus dem Jahr 1912 tragen könnte: "Über das Geistige in der Kunst". Nahezu alle Avantgardisten der Jahrhundertwende sahen sich schließlich in der Aufgabe, eine Ahnung von einer verborgenen geistigen Struktur hinter der durch die Naturwissenschaften fraglich gewordenen Erscheinungswelt zu schaffen. Dies war eine der Triebfedern der Abstraktion. Diese Traditionslinie verläuft über Kandinsky, Malewitsch und Mondrian bis zu Mark Rothko und Julius Bissier, wird jedoch heute zunehmend unkenntlich.
Rémy Trevisan, nach seinen Orientierungen gefragt, greift sogar noch über die Jahrhundertschwelle hinaus und verweist auf einen Landsmann, den Pariser Symbolisten Odilon Redon, dessen traumhafte, poetische Malerei schließlich von üppigen Farbräumen förmlich verschluckt zu werden scheint. Trevisan selbst geht andere Wege: Die Strukturen seiner Bilder öffnen sich zu einer Transparenz, die den Gedanken nahe legt, er nähere sich kontinuierlich der Monochromie - etwa in diesem Bild mit dem symptomatischen Titel "Durchblick". Fühlte man sich bei seinen früheren erdigen Gespinsten häufig an die Bleistege gotischer Kirchfenster erinnert, ist der Farbraum nun ganz geöffnet, gegen ein amorphes, endloses Dahinter. Durchschnittlich eine Woche malt er an jedem der Bilder. Dass er vor dem Malen meditiert, nimmt nicht Wunder. Doch das Bild selbst ist für Trevisan - er scheut sich nicht vor diesem Wort - eine Meditation in einem Bereich zwischen Formauflösung und Formfindung, Werden und Vergehen. Jedes dieser Bilder hat auf subtile Weise auch mit dem Tod zu tun. Versenkung aber vor allen in den Fluss des Lebens, wie ihn unnachahmlich Hermann Hesse im finalen Kapitel seines Siddharta beschreibt.

Text: Stefan Tolksdorf (M.A.)