Sehen und Schauen

Sehen und Schauen
Betrachtungen einiger Gemälde von Rémy Trevisan

"Die Augen können Fenster sein, durch die man in den Stumpfsinn schaut - oder in die Unendlichkeit." Carlos Castaneda

Wie ein dichter Nebel, in dem der Geist schwebt, so konzentriert die Klosterkirche in Bernstein barocke Feierlichkeit und karge Innerlichkeit. Im leeren Zustand ist der von einer flachen Kuppel bekrönte Raum spartanische Gebetsscheune und neutraler Museums White Cube in einem. Ein Ort im Nirgendwo, reines Potential für Ideen, Gefühle und Visionen - eine Utopie fern des Alltags. Erst die Kunst reißt Löcher in den Nebel, die den Blick in die Ferne verführen, die Gedanken in die Höhe ziehen, durch die Gestalten unverhofft in den Raum treten oder die wie matte Spiegel auf uns selbst verweisen. Die Anwesenheit von Kunstwerken transformiert das utopische Potential des Kirchenraums zur Heterotopie. So bezeichnete Michel Foucault Orte, in denen sich unterschiedliche Raum-, Zeit- und Sinnschichten überlagern, durchdringen und dabei eine Vielfalt von Reizen und Bedeutungen hervorbringen, die über die klare Funktionalität gewöhnlicher Alltagsorte weit hinausreicht. Die Heterotopie bietet eine ästhetische Erfahrung, die dem Blick in ein Prisma gleicht, in dem das Sehfeld geheimnisvoll gebrochen und zersplittert wird in eine kaum zu erfassende Zahl von kleinen Welten.

In der Rauminstallation von Rémy Trevisan wird dieses Öffnen des Kirchenraums zur Vielfalt von Weltein- und aussichten noch gesteigert, denn jedes seiner Werke gleicht einem ästhetischen Einfallstor für ein ganzes Universum. Diese zwischen mikro- und makrokosmischen Anmutungen changierende Ausstrahlung der Bilder beeindruckt und wirkt auf den ersten Blick auch befremdlich, da sie sich grundsätzlich von den gewohnten Bildbegriffen und den etablierten Raumdarstellungen unterscheiden. Jenseits des Illusionismus, wie wir ihn seit der Renaissancemalerei gewohnt sind, aber genauso jenseits aller Spielarten der abstrakten Malerei des 20. Jahrhunderts öffnet sich Rémy Trevisans Werk zu immateriellen Räumen mit merkwürdig diffusen, mal gewebe-, mal zellartigen Strukturen, in denen der Blick sich verfängt und zugleich in eine unbekannte Weite gezogen wird. In der Komplexität ihrer visuellen Strukturüberlagerungen bieten die meisten Gemälde dem Betrachter nichts zum Festhalten. Anders als konventionelle Bilder verführen sie den Blick nicht in eine kontinuierliche Raumtiefe, sei sie mit realen oder abstrakten Formen ausgestattet. Stattdessen ist man einem raffinierten Spiel der Optik ausgesetzt, bei dem die Verhältnisse zwischen Objekten und Raum, zwischen vorn und hinten, zwischen Greifbarkeit und Tiefe, zwischen Materialität und Immaterialität an jedem Punkt des Bildes umschlagen und in ihr Gegenteil verkehrt werden. Wie eine Wolke sieht man ein Formfragment auf sich zukommen, das die Sicht versperren will, und in dem Augenblick, wo es im Auge präsent wird, schlägt es selbst um in die Weite eines unermesslichen Raumes, so als sei die Form ein Nadelöhr der Unendlichkeit. Dieses stakkatoartige Umschlagen des Blicks, das durch das Nebeneinander von Positiv- und Negativformen oder durch gespiegelte, teils gedrehte Kompositionsmuster in variierenden Farben hervorgerufen wird, begründet eine permanente Dynamik der Raum- und Augenbewegung, die den Betrachter regelrecht physisch ergreift.

Anders als die Gemälde von Caspar David Friedrich oder Wassily Kandinsky sind Trevisans Bilder keine Metaphern für das Umschalten vom äußeren Sehen zur inneren Schau und damit auch keine Symbole für die Unendlichkeit. Vergleichbar allenfalls mit Barnett Newmans und Mark Rothkos Farbfeldmalerei tragen sie direkt dazu bei, im Prozess der Betrachtung Sehen und Schauen in einer zum Teil schockartigen Plötzlichkeit, zum Teil einer gedehnten Augenbewegung miteinander zu verbinden. So als würde der Schleier der Welt und der mit ihr verbundenen Interpretationsmuster zerreißen, so lösen diese Bilder eine Unsicherheit der konventionellen Bild- und Wirklichkeitswahrnehmung aus. Hier gelingt es im Moment der Wahrnehmung äußere und mentale Bilder und das heißt sichtbare und unsichtbare Bilder miteinander zu verbinden. Obwohl es im Bereich der Form dafür keine direkten Anhaltspunkte gibt, fühlt man sich bei manchen Gemälden von Rémy Trevisan an die undurchschaubaren Verschlingungen von dichtem Strauchwerk erinnert. Mal glaubt man Restspuren paläolithischer Höhlenmalerei zu erahnen, dann wieder nur flüchtige Linien auf dem Meeresgrund, dort die Kratzspuren auf verwittertem Fels. Im nächsten Moment meint man vom Mond kühl beschienene, im Nachthimmel träge wogende Blätter zu sehen, an anderer Stelle ahnt man die Unermesslichkeit des Raumes. Aber all das sind nur flüchtige Bildfetzen, die angeregt durch die komplexe Struktur der Gemälde in einer endlosen Assoziationskette vor dem inneren Auge des Betrachters vorbeiwehen und dabei so schwerelos ineinander fließen wie die unscharfen Bilder von Träumen, die im Sehen bereits dem Vergessen anheim gegeben werden.

Die einzelnen Gemälde von Rémy Trevisan verfangen den Betrachter aber nicht einfach in der diffusen Dunkelheit der im individuellen Unterbewusstsein lauernden Bildwelten. Vielmehr schaffen die Gemäldegruppen und Gemäldeinstallationen in der Klosterkirche Bernstein einen erweiterten Sinnzusammenhang, der in den Tiefengrund der menschlichen Kultur hinab- und von dort hinausführt ins Reich der Archetypen und symbolischen Urformen. So ist beispielsweise das Kreuz nicht im Sinne eines Altars auf den Erlösungsgedanken des Christentums zu beziehen, sondern in einem umfassenderen und kulturübergreifenden Sinn wird hier das vielleicht älteste, schon in steinzeitlichen Gesellschaften nachweisbare Symbol an prominenter Stelle im Raum verankert. Schon lange vor seiner christlichen Aneignung und Ausdeutung repräsentierte das Kreuz die Welteinheit, indem es die kosmische Vertikale mit der irdischen Horizontalen verschränkte und zugleich die vier Himmelsrichtungen und die mit ihr verbundenen vier mythologischen Weltreiche vereinte. Ob in der altindischen Religion, dem sibirischen Schamanismus, im keltischen Kult oder später im Christentum, das Kreuz verkörpert als Ursymbol das Universum, in das der Mensch hineingeboren und dazu bestimmt ist, sich dessen Totalität und Einheit als gleicherma?en anthropologische wie biographische Aufgabe zu vergegenwärtigen. In diesem Sinne gilt es auch die einzelnen Gemälde von Rémy Trevisans Kreuz mit dem Titel "Es gibt viel mehr Dinge zwischen Himmel und Erde" als Zusammenhang zu denken, als Mikrokosmen im Makrokosmos, als Parallelwelten im Raum der Ganzheit, als Individuen im Schoß der Einheit.

In der Rauminstallation der Klosterkirche Bernstein wird das Kreuz von zwei Gemälden flankiert, die in ihrer rot-weißen Symmetrie Prozessionsfahnen gleichen. Der jeweils identische Bildtitel "Ich bin" regt einen Standortwechsel des Betrachters an. Wie vor einem Spiegel stehend, werden wir aufgefordert uns im Bild zu erkennen, uns sozusagen mitten ins Bild hinein zu versetzen. Die von keinem Satzzeichen abgeschlossene Aussage "Ich bin" legt ein ultimatives Bekenntnis zum Leben, zum Augenblick und zur persönlichen Geschichte nahe. Darüber hinaus eröffnet sich dem Ich, das die beiden Bilder adressieren, aber auch eine kosmische Perspektive. Der jeweils rote Mittelstreifen, der wie der Bildausschnitt eines gewaltigen Lavastroms erscheint, ist vergleichbar mit Constantin Brancusis "Endloser Säule" oder Barnett Newmans "Zips" ein Symbol der axis mundi, also jener mystischen Weltachse, die durch die Wirbelsäule jedes Menschen hindurchfließt und ihn mit der Totalität des Seins verbindet. Wo das Ich im Inneren transzendiert wird, öffnet sich der Raum der Unendlichkeit.

Ein ähnliches Ineinanderfließen von individuellen und spirituellen Fragen legt auch die Werkgruppe von Rémy Trevisan nahe, deren drei Einzelgemälde nach einem berühmten Bild von Paul Gauguin benannt sind: "Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir?" Wo der berühmte französische Maler aber eine symbolisch-narrative Form der Darstellung der aus dem Biographischen ins Transzendentale gewendeten Grundfragen des Lebens wählt, stehen wir bei den Gemälden von Rémy Trevisan einer reinen Energie aus Farbe und Form gegenüber, die uns gleichermaßen in den Bildraum hineinzieht, dort herumtreibt und wieder loslässt. Die verschiedenen, vom Bild gesteuerten Bewegungen des Blicks kann man als Analogien für das große Mysterium des Kreislaufs von Geburt, Leben und Tod betrachten. Dabei gleichen die äußeren Bilder nicht wie üblicherweise in der Kunst einer Falle, in der der Blick sich verfängt, sondern können als eine Art Türöffner für die reiche innere Erlebniswelt des Betrachters verstanden werden. Genau genommen kann man in diese Bilder mit den Augen nicht hineingehen, stattdessen dringen sie in der Art von Kinesiogrammen oder Kosmogrammen durch uns hindurch. Das heißt, sie versetzen uns in eine bestimmte Schwingung. Wahrnehmung ist hier im ursprünglichen Sinne als aesthesis zu verstehen, als Aufnahme eines Energieimpulses durch die Sinnesorgane. Die ätherisch wässrige Qualität des Blaus in Rémy Trevisans Lebens-Zyklus wirkt zuerst als eine sich sammelnde und verdichtende Bewegung, dann als vitaler, ja hektischer Impuls, der keine Ruhephase kennt, und schließlich als eine sich auflösende Energie. Blau ist die Farbe mit der stärksten räumlichen Qualität, wie Wassily Kandinsky in seiner Kunsttheorie formuliert: "Je tiefer das Blau wird, desto mehr ruft es den Menschen in das Unendliche, weckt in ihm die Sehnsucht nach Reinem und schließlich Übersinnlichem. Es ist die Farbe des Himmels. Sehr tiefgehend bedeutet Blau das Element der Ruhe."

Ein derartiger immaterieller Bildbegriff findet seine Entsprechung - und vielleicht eine Art theoretische Grundlage - in den Zusammenhängen zwischen den Wirkungsprinzipien der subatomaren Energie und den Weisheiten des Taoismus und Buddhismus, wie sie der Physiker Fritjof Capra seit den 1970er Jahren in seinen Forschungen gezeigt hat, oder in Wassily Kandinskys bereits 1911 formuliertem Begriff des "Geistigen in der Kunst". Im Horizont einer solchen ganzheitlichen Denkweise und das heißt innerhalb einer nicht differentiellen, keine dichotomen Unterscheidungen verwendenden Weltvorstellungen erscheint eine Trennung von Außen und Innen, von Objekt und Subjekt, von Betrachter und Bild als überflüssig. Wenn aber ? wie das die modernen Naturwissenschaften und die philosophischen Lehren des Ostens nahe legen ? die tradierten Begriffe des Ichs und der Welt aufgegeben werden, bricht die übliche Wahrnehmung zusammen, endet die alltägliche Raum-Zeit-Vorstellung, beginnt die transzendentale Erfahrung. Diese mit ästhetischen Mitteln zu inspirieren ist bis heute eine der maßgeblichen Aufgaben von Kunst, auch wenn sie sich - zumindest in Europa - in den letzten 200 Jahren bis auf wenige Ausnahmen der Hegemonie des materialistischen Denkens untergeordnet hat.

Trotz des Vordringens der Wissenschaften in die kleinsten Teilchen der Materie und die entlegensten Winkel des Universums hat die Natur nichts von ihrem Geheimnis und ihrer Faszination verloren, wie die Installation mit dem Titel "Spiegelung" von Rémy Trevisan verdeutlicht. Die beiden Holzbohlen erinnern an ein botanisches Präparat, das den Blick auf den Strukturreichtum von Pflanzen, in diesem Fall des Eichenstammes, lenkt. Die roten und blauen Flecken, Verzweigungen und Wuchsformen sind nach den Prinzipien von Teilung, Drehung und Spiegelung aufgebaut und können somit als Analogie für elementare Wachstums- und Formungsprozesse der Natur verstanden werden. Zugleich erscheinen die beiden Zwillingsformen des Eichenstammes aber auch als ein poetisches Sinnbild für die Gespaltenheit des Menschen, der schwankend, teils zerrissen zwischen einem rationalen und einem emotionalen Pol, im leidenschaftlichen Wechsel zwischen irdischem Rot und himmlischem Blau sein Dasein entwirft. Das Kunstwerk als "Spiegelung" urexistenzieller Fragen zu begreifen, setzt allerdings die Bereitschaft voraus, jene Langsamkeit des Sehens wiederzuentdecken, das dem Blick überhaupt die Chance einräumt, sich zum Schauen zu weiten, um gleichsam dem Universum und dem Selbst begegnen zu können.

Text: Dr. Joachim Penzel